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"ePLM Navigator": Bosch schafft mit Knowledge-Graphen das verbindende Element für Datensilos

May 15, 2023
15/5/2023
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Mithilfe der Knowledge-Graph-Technologie von CONWEAVER verknüpft die Robert Bosch GmbH ihre PLM-Backend-Systeme. Der intern so genannte „ePLM Navigator“ hebt die semantische Suche nach produktbezogenen Inhalten auf die nächsthöhere Stufe.

Es war eine für viele größere Unternehmen typische Situation, in der sich die Robert Bosch GmbH befand: Große Mengen an Daten hatten sich über die Jahre hinweg in getrennten (PLM-)Backbones angesammelt. Jeder Geschäftsbereich und jede Domäne darin meisterte den jeweiligen Entwicklungs-V-Prozess für sich gesehen mit einem hohen Reifegrad. Doch der Blick aufs Große und Ganze, auf die übergreifenden Zusammenhänge war nicht möglich, weil die Datenbanken nicht miteinander verknüpft waren. Für diese Misere hat die IT-Industrie sogar einen eigenen Begriff („Datensilos“) geschaffen. 

Jedoch lag es der zentralen IT von Bosch fern, sich mit dieser Situation zufriedenzugeben. „Abteilungsmauern“ – zumindest solche aus Sicht der IT – sollten abgetragen und Recherchemöglichkeiten für produktbezogene Informationen geschaffen werden, die sich typischerweise nicht im Zugriff der PLM-Systeme der einzelnen Geschäftsbereiche befinden.

(Dieser Artikel erschien 2023 im Original auf d1g1talAgenda)

Startschuss für Knowledge-Graph-Technologie

Die Vision einer maximalen Transparenz im Sinne eines Digital Enterprise war zwar längst formuliert, doch erst 2017 fiel die Entscheidung zugunsten der Linksphere-Technologie von CONWEAVER, „um inhaltliche Zusammenhänge von PLM-Artefakten über ein Wissensgraphensystem greifbar zu machen. Das Ganze sollte in einem System gebündelt und gebrowst werden, das wir später ,ePLM Navigator‘ nannten“, erinnert sich Olaf Kramer von der zentralen Abteilung „IT in Engineering“ bei Bosch.

Worin dabei der Mehrwert liegt, erklärt folgendes Anwendungsbeispiel von ePLM Navigator: Die Suche kann über eine Typteilenummer aus der Mechanik beginnen; das Ziel sei, herauszufinden, welche Elektronikkomponenten damit geschäftsbereichübergreifend in Verbindung stehen. Abgefragt werden kann in diesem Zusammenhang auch, welche finale MBOMs (Stücklisten mit mechanischen Komponenten, die die Typtteilenummer enthalten) an die Fertigung übergeben wurden. Ein anderes Beispiel, das den Unterschied zu einer Google-ähnlichen Abfrage deutlich macht, ist, wenn recherchiert werden soll, wer der Ansprechpartner bei einem bestimmten Thema ist – nach dem Motto: „Dabei bin ich mir aber nicht mehr ganz sicher, was die inhaltlichen Zusammenhänge waren. Gehen wir also davon aus, dass nur Informationsartefakte vorliegen, etwa der Steuergerättyp und Steckverbinder mit einer bestimmten Polanzahl. Diese wenigen Informationsbruchstücke reichen bereits aus, um den Gesamtkontext zu erschließen und dazu Detailinformationen ans Tageslicht zu bringen: etwa, wer der verantwortliche Konstrukteur war. Oder wer die Validierung dafür durchgeführt hat“, erklärt Olaf Kramer.

ePLM Navigator hat dafür über die zugrunde liegende Linksphere-Technologie Metainformationen im Zugriff, nicht jedoch zum Beispiel die konkrete Fertigungszeichnung. Aber man kann – die entsprechenden Rechte vorausgesetzt – von den Metainformationen eines Objekts vom Wissensgraphs aus in die ursprüngliche (PLM-)Datenbank abspringen, die den Zugriff auf das Original-Zeichnungsdokument hat. Es ist leicht einsichtig, dass sehr viel Knowhow im geeigneten Design des Graphennetzwerks zur Darstellung der Metainformationen liegt, wenn es darum geht, eine möglichst treffsichere Suchabfrage zu garantieren.

Die Zielgruppe sind gerade jene Mitarbeiter, die nicht mit den einzelnen Quellsystemen arbeiten. ePLM Navigator übernimmt, salopp gesprochen, die Rolle eines „Beschleunigers“, um Zusammenhänge aufzudecken und um relevante Ansprechpartner zu finden. „Identify & Find nennen wir die zugrunde liegende Fähigkeit intern“, gibt der PLM-Experte zu verstehen.

Skalierbarkeit bei heterogener IT-Infrastruktur

Gesucht und gefunden – Die Idee für ePLM Navigator entstammt der kreativen Teamarbeit, wie Olaf Kramer betont. Er fügt hinzu: „Bei uns ging die Frage um, wie wir zu skalierbaren Ansätzen kommen, unter den Rahmenbedingungen einer großen, natürlich auch notwendigen Heterogenität und Brownfield-IT-Bebauung, wie sie durch die sehr unterschiedlichen Entwicklungsaktivitäten unserer Geschäftsbereiche geprägt sind. Die Geschäftsbereiche müssen sich ja auch in ganz unterschiedlichen Märkten behaupten.“ Die Heterogenität der IT-Infrastruktur ist daher als notwendiger Bestandteil der Aufgabenstellung von Bosch zu betrachten. Hinzu kommt, dass die Systemanbieter mit ihrem Lösungsangebot gewisse Rahmenbedingungen vorgeben.

Bei der Implementierung des damals noch ganz neuen Lösungsansatzes vertraute man als eines der ersten Engineering-IT-Projekte auf agile Vorgehensweisen. Daher gehörte es zur obersten Priorität, die Umsetzung des ePLM Navigators „in handhabbare Portionen einzuteilen, um konsequent Schritte in Richtung der Digitalisierung des Engineerings zu machen. Wir wollten keine Proof-of-Concept-Ansätze, weil wir bereits damals wussten, dass diese nicht skalieren“, sagt Olaf Kramer entschieden und fügt hinzu: „Gerade das gemeinsame Reflektieren im Team aus verschiedenen Blickwinkeln hat zum Erfolg dieser disziplinübergreifenden Lösung geführt.

Die Etablierung des Digitalen (Roten) Fadens in einem modellbasierten Unternehmen, visualisiert als "semantische Pyramide", die eine Hierarchie von Zeichen, Artefakten hin zu Wissen symbolisiert Quelle: Bosch/Kramer 2022

Linksphere - ausgereifte Wissensgraph-basierte Technologie

Warum so spät? Das Problem von Datensilos macht der Fertigungsindustrie ja bereits seit Jahrzehnten zu schaffen – warum also hat man in einem so innovativen Unternehmen wie Bosch erst vor sechs Jahren einen konkreten Lösungsversuch gestartet? Die Antwort überrascht: „Der Impuls kam schlichtweg von der Verfügbarkeit einer Wissensgraph-basierten Technologie mit einem Reifegrad, der uns überzeugte.“ Nach der Marktevaluierung und vor dem Hintergrund der zuvor gemachten Erfahrungen mit einem gescheiterten One-Size-fits-all-Ansatz lag es auf der Hand, dass „wir damals in eine neue Technologie einsteigen würden, der aus unserer Sicht jedoch in gewisser Hinsicht noch der Feinschliff fehlte. Für uns stellte sich die Frage, mit welchem Partner wir den gemeinsamen Weg beschreiten können und dabei sicher ans Ziel kommen.“

Neben einer Best-in-Class-Technologie sollte der Anbieter eine gewisse räumliche Nähe zu Bosch haben und aus demselben Sprachraum kommen, erklärt Olaf Kramer weiter, schließlich sollten die Kommunikationswege kurz sein. CONWEAVER mit seinem sehr innovativen Linksphere-Portfolio bekam den Zuschlag, weil eine bereits damals hinreichend reife Technologie sowie die Selbstverpflichtung des Firmengründers und Geschäftsführers Thomas Kamps vorlagen, nach der die Weiterentwicklung von Linksphere konsequent vorangetrieben werden sollte.

„Wir spürten die Entschlossenheit von CONWEAVER, und Thomas Kamps hatte die Zusammenarbeit mit Bosch als Chance für sein Unternehmen erkannt. Auf dem gemeinsamen Weg der Entwicklung wurde in Folgejahren dann das geliefert, was wir am Anfang gemeinsam vereinbart hatten.“ Erkenntnisgewinne auf beiden Seiten haben beide Partner vorangebracht (Olaf Kramer: „Ein gemeinsames Geben und Nehmen“).

Skalierbarkeit als Nagelprobe

Olaf Kramer verhehlt nicht, dass es ein anspruchsvoller Weg mit kritischen Phasen in der Zusammenarbeit war, denn es galt, die „Laborumgebung“ zu verlassen und sich in die Skalierung von Bosch zu begeben: Die Bosch-Gruppe ist ein international führendes Technologie- und Dienstleistungsunternehmen – soll heißen, in den Unternehmensbereichen Mobility Solutions, Industrial Technology, Consumer Goods sowie Energy and Building Technology und deren Vielzahl an Segmenten findet sehr rege Forschung und Entwicklung statt. Und damit ist der Informationsbedarf immens. Schließlich geben 76 100 Forscher und Entwickler alles, damit Bosch auch weiterhin an der Spitze der innovativsten Unternehmen der Welt steht. „Eine große Herausforderung war das Erschließen der Datenquellen. Es fehlte in den Bestandssystemen eine semantische Definition, sprich wie die Datenfelder syntaktisch befüllt werden sollten. Somit bestand zunächst nicht die Möglichkeit der maschinellen Auswertbarkeit“, bringt es der PLM-Experte auf den Punkt. Natürlich kann man dies keinem zum Vorwurf machen, weil ja der Anspruch damals dafür gar nicht vorhanden war.

Auch Fragen rund um die Performance wurden zum Thema, etwa beim Zusammenspiel mit System-Upgrades. Und: Wie wird der sichere, verlässliche Betrieb auf Dauer gewährleistet? Man entwickelte gemeinsam, um bei einer 24x7-Verfügbarkeit valide Datenverknüpfungen zu garantieren. „Gerade in Hinsicht auf operationale Aspekte haben wir gemeinsam mit CONWEAVER eine steile Lernkurve durchlaufen.“

Das Erreichte ist beachtlich, denn insgesamt wurden 38 Systeminstanzen angebunden. Und es kommen immer mehr Bedarfe hinzu, nachdem die Technologie verfügbar wurde. Ein Beispiel: Aktuell wird eine Anwendung eingebunden, mit deren Hilfe Einkaufspreise von Komponenten abteilungsübergreifend abgefragt werden können. Olaf Kramer: „Der Suchumfang über ePLM Navigator nimmt ständig zu, zum Beispiel auch aufgrund von Mergers & Acquisitions.“

Knowledge-Graph: Werben in der Zielgruppe

ePLM Navigator ist eine faszinierende Technologie mit immensem Potenzial. Doch ist dies auch der Zielgruppe im Bosch-Konzern bewusst? Bereits sehr früh wurde ein Monitoringprozess initiiert, und schließlich wurden Maßnahmen ergriffen, das System intern besser bekannt zu machen. So wurden Trainings angeboten und Snippets (kleine Videos) zu Anwendungsbeispielen gemacht – mit wachsendem Erfolg. Das Mitloggen der Suchanfragen soll unter anderem die Anzahl der wiederkehrenden Anwender erfassen.

Bei der Nutzung von ePLM Navigator durchwandert der Knowledge-Graph Suchketten. Diese können sich wiederholen. Daher wurde die Möglichkeit geschaffen, derartige Suchketten als Makros abzulegen. „Damit können individuelle Suchbedürfnisse immer wieder schnell befriedigt werden“, sagt Olaf Kramer zufrieden.

Offene Standards für mehr Anwendungsbreite

Spielte das Offenlegen von Schnittstellen beim Zuschlag für CONWEAVER eine Rolle? Eine durchaus interessante Frage, zumal sich der Systemanbieter für seine Offenheit im Rahmen des Codex of PLM Openness (CPO) hat zertifizieren lassen. „Das spielte zum Zeitpunkt der Auftragsvergabe jedoch noch keine Rolle, jetzt aber sehr wohl. Gezeigt hat sich, dass jenseits der proprieträren Integrationen offene Standards hilfreich sind, um ePLM Navigator mehr in die Anwendungsbreite zu tragen“, sagt Olaf Kramer.

ePLM Navigator ist gestartet als Suchmaschine. Damit ist aber das Einsatzspektrum der Technologie noch lange nicht ausgereizt. Linksphere kann auch für ganz spezifische Aufgabenstellungen kleinerer Expertengruppen sehr attraktive Lösungen bieten. Die Aufwände dafür dürfen allerdings nicht zu groß werden, etwa indem über ein Python-Binding eine GraphQL-Abfrage abgesetzt wird und so Wissensbestandteile miteinander kombiniert werden. Offene Standards wie GraphQL erlauben es viel niedrigschwelliger, die Wissensgraph-Technologie von den Fachabteilungen zu nutzen, um Verknüpfungen zu erstellen, meint Olaf Kramer und fügt hinzu: „Das CONWEAVER-Team nimmt unsere Vorschläge stets sehr offen auf. Man erachtet dies als Chance, gemeinsam mit Bosch die Linksphere-Technologie weiterzuentwickeln.“

Der Bosch-Manager hält den bisherigen CPO allerdings für sehr generisch formuliert und begrüßt es daher, dass dieser überarbeitet werden soll. „Der CPO sollte mit für Produktentwicklung relevanten Standards verknüpft werden, sodass konkrete Mappings möglich werden. Standards wie RDF/S und SparQL sind an bestimmten Stellen im V-Modell relevant. Im CPO sollten die für die Produktentwicklung relevanten Standards verknüpft werden. Es ist aus Anwendersicht sinnvoll genau zu wissen, welcher Standard von welchem Tool unterstützt wird. Die CPO-Zertifizierung erfolgt ja bisher auf der Unternehmensebene und damit auf Basis eines breiten Portfolios, nicht aber auf einer Tool-Ebene“, gibt Olaf Kramer zu bedenken.

Bosch-Zentralbereich Forschung und Vorausentwicklung (Bosch Research) in Renningen
(Foto: Pjt56 Lizenz: Creative Commons)

Digitalisierung des Engineerings

Mit Siebenmeilenstiefeln in Richtung Digitalisierung: Vor zwei Jahren wurde das Projekt abgeschlossen, und ePLM Navigator wird seitdem als regulärer IT-Service in den einzelnen Geschäftsbereichen betrieben. Ein Operations Team kümmert sich um die Erweiterung der Anwendung. Olaf Kramer weist darauf hin, dass „die Einführung von ePLM Navigator und die damit verbundenen Überlegungen eine Vorstufe zur umfassenden Digitalisierung unseres Engineering sind“. So wurde mit der Einführung überlegt, welches Design geschäftsbereichsübergreifende Informationsmodelle haben sollten. Ein Punkt dabei ist die Ausgestaltung der Maschinenlesbarkeit von Metainformationen. „Bis jetzt ist faktisch nur die reine Geometrie der CAD-Modelle maschinenlesbar.“ Aber auch Angaben wie Toleranzen oder Hinweise auf Fertigungsverfahren (PMIs, Product Manufacturing Informations) in den gerenderten Zeichnungen sollen modellbasiert digital verfügbar sein, wobei manuelle Schritte bei der Erfassung entfallen sollten.

Olaf Kramer reflektiert den aktuellen Stand: „Im Prinzip ermöglichen die offenen Formate STEP AP242 und JT das Hinterlegen von Metainformationen. Allerdings haben die CAD-Systemanbieter dies noch nicht durchgängig betrachtet. Weiterhin fehlt es an Standards zur semantischen Definition der über PMIs transportierten Informationen.“ Mit anderen Worten, auch die Nutzerfirmen müssen sich hier noch auf gemeinsame Vorgehensweisen einigen.

Auf dem Weg zu einer umfassenden Digitalisierung sind also noch einige Herausforderungen zu meistern. Dennoch macht das bisher Erreichte mächtig Eindruck: „Eine Problematik bestand darin, Informationsvektoren so zu definieren, dass sie Rückfallmöglichkeiten zulassen – wenn also bestimmte Informationen fehlen und dennoch Beziehungen zwischen PLM-Artefakten angezeigt werden können. Dies ist uns gelungen, rief aber Data Scientists auf den Plan“, sagt Olaf Kramer.

Und was macht die Wissensgraphentechnologie Linksphere außerdem so reizvoll für die Implementierung bei Bosch? „Sie erlaubt es, Zusammenhänge über mehrere Expertenwissenseinheit hinweg zu erschließen – und dies in automatisierter Form mit Massendaten“, sagt Olaf Kramer begeistert. Durch Linksphere könne man sich von den Beschränkungen der Suchmöglichkeiten konventioneller Backend-Systeme befreien.

Fazit: Mit Knowledge-Graph-Technologie Wissen offenlegen

Bei Bosch hat man sich darauf geeinigt, im Zuge einer umfassenden Digitalisierung die Inhalte barrierefrei zugänglich zu machen. Das bedeutet, dass kein Service gebucht werden muss, sondern ePLM Navigator wie Google oder andere Suchmaschinen für jedermann im Engineering frei zugänglich ist. Die Recherche kann so ungehindert gemäß den jeweiligen Rechten erfolgen. Dahinter verbirgt sich „der Wille, Informationen auf einem Metadaten-Niveau zu demokratisieren“, sagt Olaf Kramer zum Abschluss.


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